Die Diagnose Gehörlosigkeit stellt Eltern vor große Herausforderungen. Der Wunsch, mit dem eigenen Kind sprechen zu können, lässt viele auf technische Lösungen wie Cochlea-Implantate (CI) hoffen. Doch Experten betonen die Bedeutung der Gebärdensprache für die Entwicklung gehörloser Kinder, wie die Deutsche Presse-Agentur berichtet.
„Man hat keine Kommunikation mit seinem eigenen Kind“, beschreibt Romy Ballhausen, Mutter eines gehörlosen Sohnes und Vizepräsidentin des Bundeselternverbands gehörloser Kinder, die schwierige Situation, in der sich Eltern gehörloser Kinder befinden. Die Gebärdensprache, mit ihren visuellen Gebärden, der Mimik und den Oberkörperbewegungen, ermöglicht zwar Kommunikation, doch viele Eltern würden eher auf CI und das Erlernen der Lautsprache setzen, so Ballhausen.
Oft werde den Eltern in Aussicht gestellt, dass ihre Kinder mit CI gut hören lernen und die Deutsche Gebärdensprache nicht benötigen würden. Doch Ballhausen gibt zu bedenken, dass man sich nicht hundertprozentig auf die Technik verlassen könne. „Die Kinder haben auch kein Backup, wenn sie einmal ausfällt“, gibt die Hamburgerin zu bedenken.
Tatsächlich erleben viele CI-Träger den Alltag als kräftezehrend. Während Gehörlose in Gebärdensprache mühelos über Stunden kommunizieren können, erfordert die Lautsprache, insbesondere in lauten Umgebungen oder bei Hintergrundgeräuschen, ein hohes Maß an Konzentration.
Claudia Becker, Professorin für Gebärdensprach- und Audiopädagogik an der Humboldt-Universität Berlin, bestätigt, dass etwa 30 bis 50 Prozent der Kinder trotz CI Probleme in der Lautsprachentwicklung haben. „Ein störungsfreies, entspanntes Hören sei mit Implantat oft nicht möglich“, so Becker.
Thomas Lenarz, Professor für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde und Direktor der HNO-Klinik der Medizinischen Hochschule Hannover, erklärt die Funktionsweise eines CI: „Cochlea-Implantate übernehmen die Funktion der Sinneszellen, indem sie den Schall aufnehmen und daraus elektrische Impulse bilden, die zur weiteren Verarbeitung ins Gehirn gegeben werden.“ Jährlich erhalten in Deutschland etwa 5.500 Patienten ein CI.
Obwohl Lenarz die Gebärdensprache nicht ablehnt, würde er sie nicht systematisch von Anfang an empfehlen. „Die Dominanz der Lautsprache im gesamten Alltag, im Leben ist so stark, dass es natürlich darauf ankommt, dass die Kinder diese auch primär benutzen, weil sie damit natürlich alle Chancen haben.“ Seiner Erfahrung nach benötigten die meisten Kinder mit CI die Gebärdensprache nicht.
Robert Jasko, Referent bei der Deutschen Gehörlosen-Jugend, sieht das anders. Er kritisiert, dass viele Eltern allein auf Technik setzten und die Gebärdensprache vernachlässigt oder erst spät in Betracht gezogen werde. Die Folge: „Es geht viel Zeit mit Sprechtraining und lautsprachlichen Übungen verloren, viel Kommunikation, die auch anders möglich wäre, bleibt aus, die Entwicklung des Kindes kann dauerhaft geschädigt werden.“
Die Gehörlosen-Jugend weist auf die möglichen schwerwiegenden Folgen unzureichender Kommunikation hin: Identitätskrisen, Unsicherheitsgefühle, Depressionen und Angstzustände. Auch die Beziehung zu den Eltern könne darunter leiden.
Thekla Werk, Präsidentin des Bundeselternverbands gehörloser Kinder, beobachtet, dass taube Kinder oft die Diagnose ADHS erhalten, weil sie sich nicht ausdrücken können und dadurch „vermeintlich wild oder aggressiv“ wirken. „Wenn ich in den Familien bin und dort die Gebärdensprache unterrichte, erlebe ich, dass die Kinder und die Familien insgesamt viel entspannter werden, wenn sie eine gemeinsame Sprache finden.“
Doch Gebärdensprachkurse sind teuer und schwer zu bekommen. Oftmals müssen Familien über Jahre hinweg vier bis sechs Stunden pro Woche investieren, um die Sprache zu erlernen. „Es ist oft auch ein Problem der Fläche. Manchmal ist auch Geld da ist, aber dann wohnt jemand in einer sehr ländlichen Gegend, in der es keine taube Lehrkraft gibt, die die Familie unterrichten kann“, erklärt Claudia Becker.
Die Entscheidung für oder gegen die Gebärdensprache hat weitreichende Folgen für gehörlose Kinder und ihre Familien. Während technische Möglichkeiten wie CI die auditive Wahrnehmung verbessern können, bietet die Gebärdensprache einen natürlichen Zugang zur Kommunikation und zur Gehörlosenkultur.
Quelle: dpa