Michelangelo wird die Metapher zugeschrieben, die Quintessenz einer aus dem Stein zu hauenden Figur gleiche einem Körper, der beim Ablassen des Wassers aus einer Bad in seiner nackten Wahrheit und Schönheit zurückbleibe. Nicht nur die Schrift des Titels des neuen Albums „Wild God“ tritt auf dem Cover und bei den Videoeinspielungen im Konzert wie aus einer lackartigen Flüssigkeit an die Oberfläche. Auch der im australischen Warracknabeal geborene Musiker Nicolas Edward Cave, neuerdings auch unter die Bildhauer gegangen, schindet sich beim Wasser-aus-der-Wanne-lassen-bis-nur-noch-die-ehrlichen-Töne-bleiben derart, dass es einem katholischen Bußgang mit Nagelbrettchen unter dem Knie und Stacheldrahtschlüpfer ähnelt.
Schon der seit Monaten im Netz zirkulierende Album-Trailer ließ den selbstquälerischen Prozess aufblitzen, wie die für Männerstimmen schwierig hohen Noten im Refrain beim Titelstück „Wild God“ auf der onomatopoetischen Höhe von „Bring Your Spirit Down“ tagelang gesucht und doch nicht gefunden wurden, bis die verzweifelt flehenden Töne nach vielen Anläufen irgendwann etwas Selbstverständliches bekommen – und schlicht jeder davon unverzichtbar wird. Wie die FAZ berichtet, war das Konzert in Berlin ein besonders intensives Erlebnis.
Live in Berlins Uber-Arena wird das von den Gospel-Backgroundsängerinnen übernommen, die durch ihre langen weißen Gewändern die Sakralität der aus Licht gebauten Bühnen-Kathedrale noch verstärken – intensiv spürbar bleibt das Suchende im Lied nichtsdestotrotz. Auffällig ist in jedem Fall, wie stark Cave in den neuen Liedern Bilanz zieht und wie eine Norne mit ihrem Lebensfaden gleich mehrere rote Fäden durch die bisherigen achtzehn Alben zieht, ohne diese je zu kappen. Auf „Wild God“ räumt der begnadete Ton- und Wortsetzer (die Lieder werden am Klavier geschrieben und häufig auch live damit begleitet) dies auch von Beginn an ein, denn sein wilder Gott – eine Mischung aus langbärtigem Christengott auf infantilem Vorstellungsniveau und Alter Ego – „zoomed through his memory“, und zwar „Once upon a time“, womit die Lebensbilanz des Gottes als „Es war einmal“ a priori ins Reich der Märchen verwiesen wird.
Zu spüren ist das Fädenziehen vor allem an Triggerwörtern und Metaphern, wenn beispielsweise der aus seinem Altersheim (dem „Retirement Village“ für abgehalfterte Gottheiten) ausgebüchste wilde Gott in der realen Welt nach dem Mädchen „down on Jubilee Street“ sucht, der Prostituierten des Albums „Push the Sky Away“. Die allerdings damals, „1993“, in ihrem Schlafzimmer umgebracht wurde, wie er nun 2024 nachträglich datiert. Aus der Tagespolitik dringt hier und da ein konkretes Bild als Treibgut an die Textoberfläche, wie die zu Hochzeiten der inzwischen wieder abgeflauten Denkmalstürze entstandene Verlebendigung einer Statue als Hassobjekt, die wie das bronzene Abbild des Sklavenhändlers Colston in Bristol im Lied ins Meer geworfen wird, dann aber wie beim Erstickungstod George Floyds durch den Polizisten Derek Chauvin in Minneapolis ihr Leid mit den Worten klagt: „Statue says ‚I can’t breathe‘“ (aus dem Song „White Elephant“ als letztes Lied vor den zwei Zugaben).
Dass er als Gott kläglich versagt hat, erweist sich schon nach wenigen Metern Flug, weil das überflogene Land voll von „Smoke of the Bodies“ sind, der unauslöschliche Geruch verschmorten Fleisches aus Kriegen und KZs, was zugleich ein subtiles Zitat Bob Dylans aus „Death is Not the End“ ist („When the cities are on fire with the burning flesh of men“), dem wohl geeignetsten Trauersong bei Bestattungen restgläubiger Atheisten. Dieser Gott, zusätzlich krank, hat auf ganzer Linie gefehlt, er schwebt Dürer-Nemesis-gleich über die Lande „wie ein prähistorischer Vogel“, und muss sich am Ende selbst eingestehen „I’m an old God, dying!“, alt zu sein und zu sterben.
Das zweifellos intensivste Konzert des Jahres aber beginnt mit Fröschen. Im Opener „Frogs“ bezeichnet Nick Cave sie als „Symbole der Freude“, die Amphibien sind dennoch „amazed of pain“, erfreuen sich also an Schmerz. Es entspinnen sich sanfte Gospel- und Sphärenmelodien wie der Soundtrack eines Nahtoderlebnisses. Der Frosch begleitet zu einem „Bett aus Tränen“; Kris Kristofferson, so heißt es im Liedtext und wird nach dessen Tod noch unheimlicher, kickt gegen eine Blechdose in einem Leibchen, das seit Jahren nicht gewaschen wurde. Man denkt an die Frösche des Aristophanes. Zuzutrauen wäre es dem Sohn eines Dozenten für Englische Literatur, dem an der Wiege und zum Einschlafen statt Märchen Shakespeares Dramen gesungen wurden, was das Kind nach eigener Aussage liebte. Der verehrte Vater starb bei einem Autounfall, als Cave gerade einmal 21 Jahre alt war. Erster Schicksalsschlag.
Das live noch nicht oft gespielte dritte Lied „Song of the Lake“, ebenfalls vom neuen Album, kündigt Cave mit den Worten an, es werde entweder ein „Desaster or a beautiful thing“. Beautiful, wunderschön und wunderbar, wird sein häufigstes Wort des Abends für das Publikum und das Leben werden, obwohl oder gerade weil er im Jahr 2022 den zweiten von vier Söhnen verloren hat. Das deckt sich mit dem Vorgetragenen, das zwar in den Texten vor alttestamentlichen Zitaten und Anspielungen nur so wimmelt, jedoch sicher keinem christlichen Glaubenssatz entspricht. Cave sucht und findet zu seinem Trost Göttliches und Schönes in jeder Kreatur. Das Grausame und Apokalyptische übersah und übersieht er dabei dennoch nie.
Während das Album „Ghosteen“ als atonale Konfrontationstherapie nach dem Tod des ersten Sohnes nicht ohne Schmerzen zu hören war und sich schon im Opener als Bedrohung und erschütternde Erschütterung zu erkennen gab, mutierte Cave mit dem nun 18. Album zum singenden Sprachrohr aller Familienverlierväter. In den Dokumentarfilmen „One More Time With Feeling“ von 2016 und „This Much I Know To Be True“ von 2022 sowie dem Interviewbuch „Glaube, Hoffnung und Gemetzel“ aus demselben Jahr öffnet er sich weit, wird persönlicher denn je, berichtet über seine Therapie und beantwortet im Netz auf der Seite „Red Hand Files“ auch noch die existenziellsten Fragen seiner Fans wie ein gottbefreiter Beichtvater.
Im Konzert spiegelt sich das am prägnantesten in „O Wow O Wow“, ein Song, den Cave in warmherzigsten Worten seiner langjährigen Freundin und Undergrund-Diseuse Anita Lane widmet, die 2021 früh verstarb – vierter Schlag. Im Lied steckt quer die Zeile „I can’t confirm a God finally exists“, genauso viel Schönheit jedoch auch, die Lane – zu hören und zu sehen in den im Konzert eingespielten Film- und Tonspuren – in die Welt brachte.
In den fast drei Stunden werden nahezu alle aktuellen Lieder gespielt, doch spricht für den Besuch der noch verbleibenden Deutschlandkonzerte vor allem eins: Die Inbrunst, die Cave und seine neun Gefährten auf der Bühne in jeden Song legen, ist so nur live zu erfahren. Auch die sanfteren Lieder mutieren auf der Bühne zu Psycho-Gospelsongs, die gegen Ende häufig mit kakophonischen Elementen aus den ersten Jahren der Postpunk-Phase angereichert werden. Und selbst die Punk-Klassiker werden nie nur abgespult oder reproduziert. Das neue Album "Wild God" wurde am 30. September 2024 veröffentlicht, wie Bedroomdisco berichtet. Das Album ist eine Mischung aus Gospel und Rock und wurde von den Kritikern gelobt. Bedroomdisco beschreibt das Album als "ein weiteres Meisterstück".
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